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BLUR / “CRAZY BEAT“(EMI): Die neue Singleauskopplung ihres aktuellen Albums “Think Tank“. Wuchtige Gitarren, ein Baß, der das Ganze synchronisiert, die lässige Hysterie von Damon Albarns Stimme und ein Schlagzeug, daß nicht mehr tut als es muß. “The Outsider“ ist eine klassische B-Seite. Deshalb lieber noch ein Kommentar zu “We“ve got a file on you“ vom Longplayer. Das Stück hätte ohne weiteres auf die erste Platte “Pink Flag“ von Wire gepaßt. Kurz angebundener Pop, auf den Punkt gespielt, mit dem wegwerfenden Gestus der frühen Short Cuts von Wire. Ausgekoppelt, wäre dies eine zweite A-Seite gewesen und die Single als ganzes ein Brecher. WIRE / (www.pinkflag.com): Mehr ist nicht zu lesen - clear Cover, blank Label, und auch die Botschaft auf der Leerrille läßt auf nichts schließen. Minimalismus reinsten Wassers. So auch der Remix ihres Klassikers “12XU“. Wenn es so etwas wie fetten Minimaltechno gibt, dann ist er hier zu hören. Ein logische Fortführung des entschlackten Punkrock der frühen Wire. Über dem grob gehackten Beat leiern atmosphärische Störungen. Vielleicht singt ja auch ein Delphin. Auf der anderen Seite ist das Original als neue Live-Version zu vernehmen. Knochentrocken, präzise und wummernd, als würde ein Reifen anderthalb Minuten lang über einen Gully fahren. RELAXED MUSCLE / “THE HEAVY“ E.P. (Rough Trade): Erste von bisher zwei Singles. Die A-Seite, “The Heavy“, läßt sich zunächst alle Zeit der Welt. Ein müder, ausgebremster Beat, daneben tickt ein Becken und der Sänger beschwört zähnefletschend irgendwen oder irgendwas. Ob nun Fluch oder Gebet, das Stück wird zunehmend intensiver. Bis es keine Lust mehr hat. Das erste von zwei Stücken auf der B-Seite, “Rod Of Iron“, ist eindeutig dem Einfluß der frühen Cabaret Voltaire, aber mehr noch Suicide zuzuordnen. Sehr treibend, aber nicht allzu sehr. Dafür sehr gut! “Branded!“ kommt dann wieder dahergeschlendert mit einem wunderbar lieblosen Gesang, zwischendurch nölt ein gelangweilter Chor “na na na na Branded!“ Der Rhythmus klingt, als würde man ein Starkstromaggregat an- und ausschalten, ganz weit hinten ruft ein spieldosenhaftes Läuten. Sehr zu empfehlen! THE RAVEONETTES / That Great Love Sound (Sony): “That Great Love Sound“ gibt sich kraftvoll, souverän und bestimmt. Ist aber bestimmt auch 1:1 den späten Jesus & Mary Chain abgehört. Da kann man kaum noch von Einfluß sprechen, das klingt wie eine Tribute-Band. Auch der B-Seite “I Get Sick“ hört man den erwähnten Einfluß an. Doch das Schlagzeug galoppiert ihm davon und einmal in 2 Minuten und zwanzig Sekunden surft eine Gitarre auf einem wunderbaren Melodiebogen heran, um den Song endgültig von der Leine zu lassen. Solche Songs werden wohl unter “catchy“ geführt. ELECTRIC SOFT PARADE / “Things I“ve Done Before“ (BMG): Der Titelsong besteht eigentlich aus zwei Songs. Der Sänger klingt wie drei Sänger, dabei gewollt statisch und ein wenig psychedelisch. Zunächst wuchtet das Schlagzeug Bass und Gitarre hoch, diese dann wiederum den Gesang. Bis der Song kippt und eine Hawaii-artige Gitarre zurückbleibt, kommentiert von einem äußerst reduziert gespielten, beinahe lieblichen Keyboard. Der Sänger klingt plötzlich wie auf Kreide. Was vorher ein bißchen nach 90ern roch, schmeckt nun nach den Beach Boys - wenn sie nicht am Strand rumtollten. Dann schlägt das Pendel zurück und der Song ist wieder da, wo er begann. Das geht so zwei-/ dreimal und ist schön. Die B-Seite “Summer“s Slow Meander“ dagegen ist einfacher gestrickt. Stoischer Rhythmus, stoische Gitarre, stoischer Gesang, der scheinbar rein rhetorisch gemeint ist. Der Song nimmt einen mit, ohne mitreißen zu wollen. Darin besteht sein Charme. Bis kurz vor Ende. Dann wollen sie den Hörer doch noch mit wagnerhaft anschwellenden Gitarren und der ausdruckslosen Epik stadionrockartigen Gesangs packen. Weniger schön! BLACK REBEL MOTORCYCLE CLUB / stop (Virgin): Der Opener ihres neuen, zweiten Albums “TAKE THEM ON, ON YOUR OWN“. Ein vor sich hin walzendes Basspräludium eröffnet, was dann folgt. Die Rhythmusgitarre setzt sich wie ein Schwertransport in Bewegung. Darauf schaltet eine Leadgitarre in den zweiten Gang und bringt den Song ins Rollen. Er schiebt mit maximal 20 einen Gesang vor sich her, der, herablassend und unbeirrbar, so stinkarrogant klingt, daß es eine Freude ist. Das ändert sich auch nicht, wenn beide Gitarren mit einem vocodahaften Kreischen beginnen, um sich zu rotieren, als würde ein Helicopter sich selbst verschlingen. Jungsmusik, soviel ist klar! “high / low“, die B-Seite! Auch hier werden Nägel mit Köpfen gemacht, die dann selbstverständlich rollen. Ein todtrauriges Gitarrenriff läutet buchstäblich das Schlagzeug ein. Der Bass nimmt seinen Lauf und die Gitarren läuten jetzt aus der Ferne, manchmal spielen sie auch. Der Gesang ist abgehangen und aufgewühlt zugleich. Pathos und Coolness spielen unentschieden. THE KILLS / FUCK THE PEOPLE (?): Speed Blues mit vier Rädern unten dran. Eine Mundharmonika, die ein bißchen aus dem Eimer klingt, oder ist es gelooptes Gänsegeschrei?!. Der Song fährt wie von selbst und erinnert an “Run Through The Jungle“ von CCR. Die Sängerin flucht eher wie Jennifer Herrema von Royal Trux. “Fuck the poeple“ - mehr gab es für den Moment wohl nicht zu sagen, wahrscheinlich gibt es deshalb keine B-Seite. JEFFREY LEWIS with RACHEL LIPSON / GRAVEYARD (Nowhere Fast Rec.): Ein singalong-Singlesong. Aber Folk ohne Folk. Die Gitarre stimmt nicht und zu Bass und Schlagzeug wäre zu sagen, daß sie nicht vorkommen. Lewis und Lipson leiern leicht gehetzt zu einer schlichten und schlicht schönen Melodie. Nicht ganz synchron rasseln sie zwar denselben Text herunter, doch es hört sich an, als würden sie sich gegenseitig widersprechen. “Spirit Of Love“, die zweite Seite, wird auch wieder zweisam besungen, läßt aber, etwas betulich, die Frische der A-Seite vermissen. Das reißt auch ein Harmonium, das sich völlig daneben benimmt, nicht raus. Weil es davor “Graveyard“ zu hören gab, ist das aber nicht weiter schlimm. SIMPLE KID / DRUGS (fierce panda rec.): Die erste Single “TRUCK ON“ war hymnisch und wundervoll. Selbst die B-Seite “AVERAGE MAN“ machte die Welt ein bißchen besser. “DRUGS“ dagegen scheint schon nicht mehr ganz von dieser Welt, es kommt von wer-weiß-woher. Eine geklonte Maultrommel erklingt von ganz weit hinten, eine akustische Gitarre tastet sich heran, löst ein näselndes Tasteninstrument aus, das Schlagzeug marschiert klingelnd los und Simple Kid setzt laut flüsternd ein. Er singt, als spiele er selbstvergessen mit zehn Fingern vor den Augen. Mittendrin belohnt er sich mit einem mehrfachen Tusch und macht weiter wie zuvor, bis er zurückentschwindet in Richtung wer-weiß-wohin. Beide Singles klingen nach den wirren Momenten von Beck. Drei Songs, drei Treffer!!! HOT HOT HEAT / NO, NOT NOW (SUB POP): Bündelt die ganze Nervosität der 80er Jahre. Erinnert an Punishment Of Luxury, ist aber nicht böse genug. Auch an XTC, ist aber nicht reif genug. Oder an die Skids, ist dafür aber zu unbeschwert. Wirklich wachgerufen werden die überdrehtesten Momente der Dexys Midnight Runners. Ist dem Song jedoch einerlei, denn lieber ist er zweierlei; Comedy- und Powerpop. Er hampelt so vor sich hin und hätte prima in eine Pinocchio-Verfilmung gepaßt, ist aber alles andere als hölzern. Die B-Seite “5 Times Out Of 100“ ist Drum“n“Bass als schlechter 80er-Remix. Ist wohl so gewollt. Das Stück wird wie ein Sprachkurs angekündigt, zu hören bekommt man allerdings ein völlig übergeschnapptes Stottern. Gesang und Instrumente wirken, als hätte man sie rückwärts aufgenommen, um sie vorwärts abzuspielen. Irgendwann beruhigt sich die Band wieder und überläßt den Rest einem alten Saloonklavier, das blechern wie von Schellack tönt. THE BRIEFS / shesabrasive (Dirtnap Rec.): Band aus Seattle, die für Amis sehr britisch klingt. Die A-Seite “shesabrasive“ läßt die erste Platte der Boomtownrats in ihrem Grab rotieren. Das Stück hat Kraft, die aber nur halbstark rüberkommt. Der Track selbst ist Ur-Punk, während der Gesang es mit New Wave versucht. Klingt ziemlich verzickt. Auf der zweiten Seite wird“s dann ernst. “likeaheartattack“ macht die A-Seite zur B-Seite. Orthodoxer 77er Punkpowerpop, der einen von vorn anfällt. Ein fordernder Rhythmus, drei Meter darüber eine sirenenhafte Gitarre mit einer einfachen Melodie, die sich immer wieder selber heckt, und ein Sänger, der durch seine nüchterne Art auszuflippen besticht. Ein Song, der weiß, was er will! CAESARES / JERK IT OUT (Virgin): Ein Hit mit der Wucht von drei Hits! Eine Fafisaorgel, die mit Blaulicht kommt, ein Sänger in bester Modtradition und überhaupt eine Band, die Melodie und Rhythmus auf eine geradlinige, doch ungeheuer sinnliche Weise vorantreibt. Leicht verhallt beschwört “Jerk It Out“ die späten 60-er und Bands wie The Who und Small Faces. Seine Energie aber erinnert an Modpunks wie The Jolt, The Chords und natürlich The Jam. Dennoch ist der Song so etwas wie ein Jetztzeit-Evergreen und alles andere als Retro. Vielleicht wird diese Hymne nur noch von “Teenage Kicks“ der Undertones übertroffen. Die B-Seite “Cannibals“ macht den Mod-Einfluß noch deutlicher. Dabei klingt sie wie vom Grunde eines Ziehbrunnens heraufgespielt. Dunkel, ohne finster zu sein ist der Song schwärmerisch und dennoch absolut desillusioniert. Das Stück hat etwas Zwingendes. Wenn es endet, ist man nicht mit ihm fertig.

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THE SUN / “Back In The Summer Of ′72” (Rough Trade) Erst Sonne, dann Sommer, alles deutet auf Licht. Doch zu hören bekommt man einen Song, dem man nicht im Dunkeln begegnen will. Der Sänger krächzt und kläfft, als hätte man das Babyphone für wimmernde Tiere und nicht für heulende Kinder erfunden. Stimme und Orgel hyperventilieren, und gerade letztere erinnert an Konzertversionen der Doors, wenn sie gegen Ende eines Songs ausklinkten, um live zum Schöpfer zu schalten. Allerdings wurde der Song kontrolliert entfesselt, denn eine geradlinige Gitarre, neben einem Trio-haften Schlagzeug, gibt ihm Struktur und hält ihn auf Kurs. Im zweiten Song der A-Seite “Carry It All” tun sich zunächst Orgel und Schlagzeug zusammen. Der Gesang aktiviert die Erinnerung an die Band Clinic und überhaupt an einen Kranken, der auf geheilt macht und im Fieber auf Entlassung hofft. Dann will auch noch die Gitarre mitspielen und übernimmt die Figur der Orgel. Das war wohl zu viel, denn nun gibt der Sänger jede Zurückhaltung auf. Das Babyphone kommt wieder zum Einsatz und es klingt, als würde man einen Verzerrer noch übersteuern. Pop von seiner orgiastischen Seite. Selten, daß Unhörbares so eingängig klingt! Die B-Seite heißt “The New Sound”. Spricht der Titel von einer ganz neuen Erfahrung? Denn der Trommelwirbel gemahnt an eine Hinrichtung und hört damit über die Länge des Songs auch nicht auf. Die Gitarre gleitet schon hinüber, die Orgel spielt wie zum Abschied. Der Delinquent und Sänger hat auch schon abgeschlossen und faselt nur noch reflexartig wirres Zeug vom neuen Klang, als könnte er so seine Unschuld beteuern. Ich glaube ihm, denn im Hintergrund souffliert ihm ein Engel.
LE NEON / “S.P.A.C.E.” (fierce panda rec.) Gitarre und Baß traben auf gleicher Höhe heran, das Schlagzeug galoppiert hinterher, ohne jedoch zu überholen. Keine Ahnung, wie das geht, aber so wirkt der Song gleichermaßen abgehangen und gehetzt. Der Sänger näselt was zusammen, spult sich dann aber auf und deklamiert in Großbuchstaben sein S.P.A.C.E.! Die Gitarre versteigt sich derweil zu dem berühmten Wall of Sound. Das Ganze ist auf eine sehr geordnete Weise wüst. Schließlich geht der Song krachen und man bleibt abgehängt, doch mitgerissen in einer Staubwolke zurück. “Britannia”, die B-Seite, dagegen macht auf crazy und röhrt wie eine Motorsäge, die durch Alu geht. Vielleicht für Freunde des japanischen Noisecore interessant, falls er auch aus England kommen darf.
The Coral / “Don“t Think You“re The First” (Sony) Ausgerechnet dieses Stück könnte die beste Single aller Zeiten des Monats sein! Eine gläserne Gitarre, die nur gelegentlich von einem schlichten Baßlauf kommentiert wird, liegt über einem dunklen und minimalistischen Schlagzeug, das man hört, wenn man das Ohr an die Schienen legt. Ab und an leuchtet die angerissene Melodie einer Flöte auf, die gleich wieder verglüht und wahlweise nach Viola, nach Oboe oder nach Klarinette klingt. Alles sehr gezielt eingesetzt, allerdings ohne berechnet zu wirken. Die Diskretion des Stücks wird kontrastiert durch einen fliehenden Gesang, der flehend gegen etwas ansingt und es fordernd gleichzeitig besingt. Geht wohl um Liebe. “See-Through Bergerac” tischt auf, was von der A-Seite runterfiel. Eine delikate, an Bauhaus“ letzte Lp “Burning From The Inside” erinnernde Gitarre, einen Gesang, der von Jim Morrison kostet, und Backingvocals, die als Bindemittel anscheinend zu ölig geraten waren. Drei Sterne, die nach keinem schmecken.
Daniel Johnston / “Fish” (BMI) Dieser Mensch ist voller Musik! Doch selten, daß er seinem Sinn für kindliche Melodien derart hymnisch Ausdruck verlieh. Man hört ihn regelrecht die Sonnensichel anheulen. Denn für den Mond scheint dieses Klagelied zu heiter und mit allem Kummer versöhnt. “Living It For The Moment” klingt für Daniel Johnston ungewohnt rockig. Doch, wie auf seinen Homerecordings, liegt sein Gesang wieder voll neben der Spur. Eigentlich singt nur kurz eine Säge.
Michael Yonkers / “Micro-Miniature Love” (Get Hip Rec./BMI) 1968 entstanden, 96 in den USA wieder veröffentlicht, ist die 7” nun in Deutschland erschienen. Der Baß ist Blues, die Gitarre Surf, der Gesang Rockabilly und das Schlagzeug scheppert vor sich hin, als würde es aus dem fünften Stock eine Treppe herunterrollen. Alles zusammen klingt mehr nach Rollin“ Roll als nach Rock“n“Roll. “Kill The Enemy”. Weniger von den wunderbar naiven Effekten als auf der A-Seite. Wo diese treibend war, wirkt “Kill the Enemy” regelrecht getrieben. Der Sänger ist eher am Beschwören als am Singen. Man hört gewissermaßen das Weiße in seinen Augen. Dunkler Bluesbilly, Trash auf hohem Niveau.
Relaxed Muscle / “Billy Jack” (Rough Trade) Zweite Single des Pulp-Ablegers. Könnte ebenso von David Lynch sein, hätte er ein Westernmusical verzapft. Ungesunder Hillie Billie, als würden Suicide um sich feuernd im Saloon aufspielen. Der Song stinkt vom Kopf her. Smells like spleen spirit. Stinkt aber gut! “Sexualized”, auch die B-Seite möchte uns versichern, daß krank gesund und gesund ganz doll krank ist. Der Song klingt, als hätte man ihm die Boxen eingetreten, der Gesang geht etwas Cramps-like zur Sache und hinter einem schweren, roten Samtvorhang lugt eine spitz gespielte Gitarre hervor, die der geballten Brachialität etwas recht Flottes verleiht. Insgesamt ziemlich finster, dafür leuchtet der Longplayer “Heavy Night With...” im Dunkeln.
Rocket Science / “One Robot” (Eat Sleep Rec.) Australische Band. Sehr souverän! Das Stück hat etwas von einer Draisine, von einem Fliegenden Holländer auf Schienen, der in einem immer gleichen Tempo für knapp vier Minuten ewig dahinrollt. Andererseits pflanzt sich der Song in Wellen fort und sucht sich wie Wasser seinen Weg. Dabei geht er alles andere als zerstörerisch vor, wird jedoch getragen von einer nicht zu erschütternden Entschiedenheit. Nur der Gesang läßt vermuten, daß der Song auch soetwas wie Selbstzweifel kennt. Vielleicht, weil der Sänger an die fassungslose Art von Ian Svenonius von Make Up erinnert. Zur Hälfte des Stücks muß der Sänger jedoch den Einflüsterungen eines Chors weichen, der appelliert, insistiert und irgendwie auf Sendung ist. “Action” beginnt dann auch wie ein Laiengottesdienst. Eine schmierige Orgel bereitet den Hörer auf Größeres vor. Gott sei Dank heißt es dann wirklich “Action”. Die ganze Band hackt auf dem selben Rhythmus rum. Orgel und Gitarre scheren gelegentlich aus, schließen sich der Truppe aber schnell wieder an. Der Gesang ist auf eine bockige Weise verzickt und betont die Nervosität des gesamten Songs. Das glatte Gegenstück zur A-Seite. Sozusagen eine runde Sache, die Single. Irgendwie ganzheitlich. Franz Ferdinand/ “Darts of Pleasure” (Domino) Ein Song, ein perfektes Räderwerk. Wie hier wechselweise die Stimme mit den Instrumenten ineinandergreift und der Rhythmus mehrfach umgelenkt wird, ist eine Freude zu hören. Ausgerechnet das Schlagzeug erweist sich aber als unbeirrbar und hechelt über das gesamte Stück lustig drauf los. Der Sänger hat Attitüde nicht nötig und bleibt, selbst wenn es schräg wird, geradlinig. Die Band ist oft mit schottischen Vorgängern wie Orange Juice oder Josef K, aber auch mit Gang of Four verglichen worden. Anscheinend in Ermangelung anderer Referenzen. Wirklich interessant ist der dauernde Verweis auf die Strokes. Aber nur insofern, da man nun im direkten Vergleich erkennen kann, wie konstruiert und erdacht viele der Melodien ihrer Songs wirken und wie losgelöst und aus der Hüfte die schottische Variante des Jetztzeitpop angerauscht kommt. Nun zu “Shopping For Blood”. Darts of Pleasure ist die erste von zwei Singles zum Debut. Die zweite Single “Take Me Out” wird als der Hit des Albums gehandelt und wahrscheinlich kann man ihn sich demnächst als Klingelton aufs Handy laden. Wenn es Sinn hat, nicht die aktuelle, sondern die erste Single zu besprechen, dann auch ihrer B-Seite wegen, die nicht auf dem Longplayer zu hören ist. “Shopping For Blood” kündigt sich durch ein zackiges Schlagzeug lange als Midtempostück an. Dann setzt, sehr akzentuiert, ein frequenzartiges Keyboard ein, das seltsamerweise “Eisbär” von Grauzone wachküßt. (Nicht die schlechteste Referenz, denn der Song war auf der Höhe seiner Zeit, doch der Text lachhaft.) Der Sänger referiert gedehnt und von oben herab über Einkaufen, Blut und andere Interessensgebiete. Ist wahrscheinlich kritisch gemeint. Plötzlich verliert das Stück seine Contenance und die Band schmettert im Chor nieder, was der Song vorgab zu sein. Dann wieder wie vorher, dann wieder heftig, dann wieder blasiert, dann Tusch und Schluß. Eins A für eine B-Seite!
The Fall / (We Wish You) A Protein Christmas (Action Rec.) Keines der Stücke dieser Doppel-7” ist auf der aktuellen und exzellenten LP “Country On The Click” vorhanden oder nur in einer abweichenden Version. Aber das wär nur Schmalz auf die Butter gewesen, denn die vier Stücke geben sich auf eine entschlackte Weise fett. Darin sind sie sich untereinander einig. Die A-Seite “(We Wish You) A Protein Christmas” ist begehbar wie ein Haus. Man kommt durch die Tür, wird von einem Schlagzeug empfangen, im ersten Raum setzen Gitarre und Keyboard ein und dann nehmen Mark E. Smith und ein geisterhafter Frauenchor einen mit durch eine lange Flucht von mit Klängen möblierten Räumen. Die anderen drei Songs dagegen stehen wie Rohbauten da. Das wunderbare “(We Are) Mod Mock Goth.” basiert auf zwei Gitarrenriffs, die geschlagene fünf Minuten lang stoisch abgerufen werden. Dazu röhrt Mark E. Smith deklamierend wie durch einen künstlichen Kehlkopf. “(Birtwistle“s) Girl In Shop” ist die psychedelische Variante vom Ententanz. Ein paar einfältige Keyboardanschläge, ein marschmusikhaftes Schlagzeug, mehr is nich. Abgesehen von Smith. Der tönt, nölt und leiert den Song, sollte es denn einer sein, gekonnt kaputt. “Recovery Kit 2 #” besinnt sich auf den frühen Rave, falls besinnen das richtige Wort für einen Song ist, der wie in Trance daherkommt. Smith spricht im Schlaf, ein Sample tropft von der Decke in eine halbvolle Blechwanne, das Schlagzeug setzt sich wie ein Automat in Gang und die Orgel schlägt einen an Tragik kaum zu überbietenden Melodiebogen an. Als würde sich der Tod das Leben nehmen.

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EASTERN LANE / “Said Pig On Friday” (Rough Trade): Die A-Seite macht sich locker, ist aber mit Gewalt funky. Das Schlagzeug übernimmt die Vorhut und schaut ungeduldig zurück, wann endlich die anderen kommen. Dann sind sie da; vorneweg die zweite Leadgitarre, die sich anhört, als würde man Rhythmusgitarre auf einer Schlachttrompete spielen. Schließlich reißt der Sänger das Kommando an sich. In die Sache kommt Bewegung, der Song entwickelt Hitze und geht wie durch Butter. Alles prescht voran, niemand will zu spät in die Schlacht. Manchmal hält der Sänger inne, um das Gefolge wieder um sich zu sammeln, dann geht es weiter. Endlich ist man am Ort des Geschehens und alles stürzt sich ins Getümmel. Britpop ist was anderes, das ist Prügelpop, das ist grob vom Feinsten. Die B-Seite “For Valour” dagegen ist die Ruhe nach dem Sturm. Kein Aufruhr, ein schöner Song, der zwar geglückt ist, aber nicht glücklich macht, und irgendwie nur die Toten der A-Seite zählt. BLONDE REDHEAD / “Equus” (4AD): Der Song scheint nah am Wasser gebaut, klingt aber eher verrotzt als weinerlich. Eine hyperaktive Stimme zerrt an den Instrumenten. Gitarre, Baß und Schlagzeug atmen immer dann tief durch, wenn es dem Kind im Sänger gerade einfällt, mit großen Augen schwarze Schafe zu zählen. Doch an Schlaf ist nicht zu denken, da im nächsten Moment die Stimme mit einer zu Herzen gehenden Verzweiflung Bauklötzer nach dem Hörer schmeißt. Das wirkt schwer erziehbar, aber auch frühreif. Ein echtes Sorgenkind. Man liebt es trotzdem. “Messenger”, die B-Seite der Medaille, scheint der therapeutische Gegenentwurf zur A-Seite. Der Sänger ist von einer herablassenden Milde. Er gehört auch nicht zur Band, denn diese ist mit den Nerven am Ende und hat in ihrer Not ausgerechnet David Sylvian als Bändiger der Rotznase von Seite A engagiert. Gütig, aber autoritär sorgt er für Ruhe. Man kommt zu sich, kann wieder denken, und, von Sylvians Stimme erweckt, schläft man glücklich ein. THE DEARS / “We Can Have It” (Bella Union): Erste Single zu ihrem Debut “No Cities Left”. Ein Stück, das sich einen Altar errichtet und sich selbst anbetet. Der Sänger will beileibe nicht, daß der Kelch an ihm vorübergeht. Er wird zunächst nur begleitet von einem xylophonhaften Keyboard und einer feinen Gitarre, die man mit einem Stick verwechseln könnte, der ganz sacht auf ein helles Becken schlägt. Und dann ertönt ein Orchester, in dem jedes Instrument erfüllt ist von einer Mission. Es kommt wie Breitwandpop daher, bleibt aber sehr filigran. Jünger seiner selbst, singt der Sänger schließlich noch allein im Chor. So viel Narzismus gehört entsprechend verpackt. Insofern sollte der Song, der ein schönes Lied sein will, nicht in einer simplen Singlehülle stecken. Er verlangt nach einem Schrein, zur Not tut es auch ein Etui. “Summer Of Protest”. Mitunter fühlt man sich entfernt an Joy Division erinnert. Doch was an ihnen kalt war, hat hier Raumtemperatur, wärmer aber wird es nicht. Diesem Sommer mangelt es an Licht, dem Protest fehlt es an Feuer. Ein Baß, der vor sich hin stiert und nur leicht den Kopf hebt, wenn ihm die Gitarre kurz ins Gesicht leuchtet. Dann eine Frau, die durch einen künstlichen Kehlkopf eine Klage anstimmt. Sie hat ohne Worte bereits alles gesagt, bevor der Sänger dazu kommt, sich zu äußern. Dies tut er schließlich auf eine desillusionierte wie verklärte Weise. Als Backingvocals erheben sich irgendwann Polizeisirenen und durch ein Megaphon plärrt die eifernde Stimme der Revolution. Alle paar Umdrehungen begehrt der Song auf, um dann wieder in einen prozessionsartigen Trott zu verfallen. Er steht für die ewige Wiederkehr des Immergleichen; dem Sommer folgt der Winter, dem Protest die Revolution. THE DEARS / “Lost In The Plot” (Bella Union): Zweite Single. Diese Hymne wird regelrecht hochgefahren. Die Gitarren heulen verzückt auf, der Schlagzeuger langt in die Becken wie in Kochtöpfe. Hier wird ein Song losgetreten und wie ein Ozeandampfer vom Stapel gelassen. Natürlich sieht er nur noch halb so groß aus, nachdem er gewassert wurde. Dennoch bewahrt er Größe. Seine Taufe ist ihm Untergang und die Band spielt mit einer Hingabe, als gäbe es kein Morgen. Ihr Sänger versprüht eine Freude, die frei von Frohsinn ist, denn er ist untröstlich, doch frei von trivialer Trauer. Diese Art, klagend zu triumphieren, sucht ihresgleichen, findet sich aber letztlich doch bei Morrissey. “Heartless Romantic”. Klingt, als hätte der Song die Gitarre in der Hand, die Mundharmonika zwischen den Zähnen und Pauke nebst Hi-hat auf dem Rücken. Da kommt ein Musikclown von weit her und schlurft langsam ran. Das Schlagzeug ruht sich auf einer einzigen Figur aus, das aber unüberhörbar. Ein Klavier meldet sich, setzt aber mehr aus als ein. Die Orgel, in der das mündet, nervt wie ein anhaltender Herzton, der besagt, man könne die lebenserhaltenden Geräte nun abschalten. Ein Sänger stört durch eine Sprechanlage. Der Proberaum, aus dem das hallt, läßt nicht auf die Band von der A-Seite schließen. Man sollte ihn weiträumig umfahren. SONS AND DAUGHTERS / “Johnny Cash” (Domino): Eine Gitarre, die, wie an einer Schnur gezogen, schiebt, falls das geht. Schlagzeug und Baß drängen von hinten nach. Beide getrieben von zwei stoisch angeschlagenen Tasten eines stakkatohaft gespielten Klaviers. Dazu ein Gesang, der die späten Mekons heraufbeschwört, als sie sich auf Country und Western verlegten. Ansonsten winken Gunclub. Im eigentlichen Sinne des Wortes ein Walzer, der äußerst gefestigt sehr flüssig klingt. “Hunt”, die B-Seite, geht ähnlich entschlossen zu Werke, versucht es aber auch mit Blues. Zunächst spielt das Schlagzeug die erste Geige. Dann meldet sich die Sängerin zu Wort und übernimmt den Song. Die Gitarre ordnet sich unter, kommt aber wieder wie aus dem Halfter. Ein Geschenk, was die Single auch kostet. TV ON THE RADIO / “Staring At The Sun” (Touch And Go / 4AD); Brummt zunächst, als wenn die Masse direkt auf der Single und nicht auf dem Mixer liegt. Dann begegnet man Peter Gabriel oder der halluzinogenen Dosis seiner selbst. Und wenn einen die Sinne nicht täuschen, ist da ein zikadenhaftes Keyboard zu hören, wie man es so ähnlich von Enos “Baby“s on Fire” kennt. Gabriel und Eno, eine Konstellation, auf die man selbst vielleicht nicht gekommen wäre. Aber die Band bringt es ja auch fertig, auf Radiowellen fernzusehen. Klingt in jedem Falle so, als würden sich zwei Sender glücklich überlagern. “Freeway” heißt der erste von zwei Songs auf der B-Seite. Ist auch sehr frei in seiner Weise, sich drei-stimmig als A-cappella-Verein selbst auf die Schippe zu nehmen. Am Ende unterbindet jemand den weiteren Verlauf des Versuchs mit einem mehrfachen shut up. Leider volle zwei Minuten zu spät. Weiter geht“s “On A Train”. Allerdings sehr eingleisig mit einem Sänger, dessen Gesang nach Abgesang und dessen Stimme sehr kalkuliert nach Endstation klingt. Im Hintergrund klimpern Marimbas, wie originell... Auch hier wäre der Anfang am besten das Ende vom Lied. Und wenn TV ON THE RADIO mit einem selbstverordneten Maulkorb kokettieren, nämlich zum Songausklang, wenn es ohnehin keinem mehr weh tut bzw. erlöst, ist es bei PINK GREASE / “Fever” (Mute) der hingeworfene Opener zu einem Track, der wie ein Truck im Tiefflug angekachelt kommt. SHUT UP wird hier voller Herablassung groß und nicht klein geschrieben, worauf sich der Sänger dreimal auf die glamourhafteste Weise an sich selbst verschluckt. Überhaupt ist hier der Gesang der Motor dessen, was schwül und dennoch hitzig rüberkommt. Er zerrt die Gitarre auf geschmierten Achsen hinter sich her, hat aber auch Baß und Schlagzeug geladen, die unerschütterlich wie ein Betonmischer ihr Inneres verrühren. Nur der Geist eines gequälten Keyboards irrt durch das Arrangement wie ein angefahrenes Tier. Das Ganze hat Sex und ist auf eine softe Weise Hardcore. “Killer Killer”, die B-Seite, ist Brasscore und braucht eine Minute und zehn Sekunden, um der A-Seite ein paar Takte zu erzählen, die sie andererseits ständig verliert. Hier stimmt nichts, und das sehr stimmig. Zackig, doch aus dem Tritt, hält der Song nicht Schritt. THE FEATURES / “There“s A Million Ways To Sing The Blues” (temptation rec. / Island): Die A-Seite läßt sich nicht lange bitten und bläst ins selbe Horn wie ”Fever” von Pink Grease. Mit einem unverblümten Riff setzt die Gitarre ein, sie läßt nicht locker, bis der Hammer fällt. Bis dahin haut sie tapfer drauf, Schlagzeug und Baß wummern immer auf die Zwölf und eine hysterische Orgel spielt immer dieselbe Platte. Der Gesang fährt auf dem Line Up Schlitten und legt sich in die Kurven. Das hat zur Folge, daß soviel Rhythmus als reine Melodie angeschlittert kommt. Wie eine beschwingte Lawine geht das Stück auf die Piste, fegt unbekümmert und erfrischend alles aus dem Weg und läßt es dann kurz angebunden krachen. Mitten rein in eine Aprés-Ski-Party. Aber das ist nur so eine Phantasie. “See You Through” beginnt, wo die A-Seite abbrach, kommt aber schnell zur Besinnung. Doch man ahnt, daß das nicht alles war. Der Sänger scheint höchst unzufrieden. Seine Stimme zittert, wimmert und schrammt mitunter nah an Robert Smith vorbei, um eher an David Thomas zu erinnern und dann wieder an keinen von beiden. Ähnlich unentschieden steht es um das Temperament des Songs. In Abständen ohrfeigt er sich, um sich gleich wieder zur Ordnung zu rufen, dann wieder würde er sich am liebsten selbst einweisen. So schwankt das Stück hin und her zwischen seinen Gemütszuständen, bis es seinen Vorrat an Macken erschöpft. THE MUTTS / “Missing My Devil” (Fatcat): Dieser Song hat eine starke Strömung, er kommt mit der Flut. Nur manchmal kurz gestaut von dem Wall Of Sound, den seine Gitarre ab und an errichtet. Dann schreit auch der Sänger gegen das Getöse an, bis alles wieder fließt. Ansonsten besingt er seinen Song, wie John Fogerty von CCR seine Pflanzen. So großartig die A-Seite, so durchschnittlich sind “Demolition” und “Hard On For Jesus”. Daher die B-Seite beiseite. THE RUTS / “Babylon“s Burning” (Dude Records): The Ruts spielten Rotz, daß einem die Spucke wegblieb. Ihr Klassiker ist nun als sogenannter “Reconstructed Dub Drenched Soundscape RMX” erschienen. Das gleich in zwei Versionen. An der A-Seite war Dave Ruffy, der ehemalige Drummer, beteiligt. Das Original wurde runderneuert und frisiert, die neue Version zieht das Tempo an. Als hätte man der Aufnahme die Tonränder gekappt, wirkt das Line Up jetzt noch nervöser und auf den Punkt gespielt. Dort, wo die Urversion nach Atem ringt, switcht der Remix hörbar weiter, läßt wahlweise die Gitarre oder den Gesang von Malcolm Owen in ein Luftloch sacken und zieht sie stotternd durch ein Delay wieder hoch. Über den gesamten Song hetzen dezent Effekte hinweg, die manchmal Songsequenzen sampeln oder einfach nur Dub- oder Housezitate sind. Das macht den Remix noch zupackender als das ohnehin schon griffige Original. Ein Director“s Cut, der ohne Fahrgestell funkensprühend auf dem Dancefloor landet. Jedenfalls eignet er sich nicht zur Beschallung einer Bowlingbahn. “Babylon“s Burning” (Night Version). Die B-Seite versucht sich als Punk-Oper und ist wunderbar als Opener geeignet, um am Ende die A-Seite reinzumixen. Der interessierte Hörer wird mit einer Celloversion konfrontiert. Die hat aber nichts mit dieser Pest von “Rock meets Klassik” am Hut. Mehrere Celli machen sich aneinander zu schaffen. Darüber wurde die Gesangsspur des Originals gelegt, dahinter soetwas wie die Musik der himmlischen Sphären in Form eines Frauenchors, der seinen Geist aushaucht. Das könnte das auf dem Cover erwähnte Sample von Smith & Mighty sein. Egal, ein spätes Requiem für Malcolm Owen.

(Kolumne in der Zeitschrift “Telegraph”, Nr. 109, 110 und 111, 2004.)

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